Der Weber

(oder: Kabir)

 

 

Auf einer Reise durch den fernen Osten unternahm ich

eine Wanderung, die mich in eine mir unbekannte Gegend führte. 

Ich kam vom Weg ab und irrte lange umher, bis ich eine Hütte 

fand, in der ein alter Weber seiner Arbeit nachging.

 

Nachdem ich ihn freundlich gegrüßt hatte, fragte ich ihn, 

ob er mit helfen könne. 

Er hieß mich herzlich willkommen, bat mich in sein 

bescheidenes Haus und bot mir zu Essen und zu Trinken an. 

Nach unserem gemeinsamen Mahl blickte er mich mit einem

durchdringenden Blick aus wachen Augen an und sprach:

 

„Du hast mich gefragt, ob ich Dir helfen kann. 

Mein Beruf ist das Weben. Viele Menschen kommen von weit her,

weil sie meine Arbeit zu schätzen wissen. 

Ich stelle Stoffe her, die sowohl strapazierfähig wie auch schön

gemustert sind.

Meine Kunst beruht auf einem einfachen Prinzip.

Sieh die Kettfäden, die ich auf meinen Webstuhl gespannt habe.

Beziehungslos laufen sie nebeneinander her. Verbunden werden sie

durch den Faden, den ich als Schuss hin und her führe und im Wechsel

über und unter die Kettfäden lege.

Die innigliche Verbindung der beiden Fäden miteinander ergibt

das eine Ganze, den festen Stoff mit seinen kunstvollen Mustern.

 

Halte es so auch mit der Wahrheit und der Liebe, 

denn im Leben durchdringen sich beide. 

Ohne die Liebe aber ist die Wahrheit starr und kalt, 

und die Liebe verliert sich von der Wahrheit losgelöst

schwärmerisch in Illusionen.

 

Nun höre mir gut zu und folge meinen Worten:

 

Leere Deinen Geist von allen Inhalten. 

Fülle ihn randvoll mit nichts als der Wahrheit. 

Dann tauche in ihn bis zu seinem Grund 

und trinke gleichzeitig alles restlos aus.

 

Überprüfe, wer Du in diesem Augenblick bist!

 

Leere abermals Deinen Geist von allem, was in ihm ist. 

Fülle ihn diesmal randvoll mit Liebe auf. 

Tauche auch jetzt bis zum Grund und trinke, 

während Du tauchst, alles restlos aus.

 

Überprüfe wieder, wer Du jetzt bist!

 

Nun bitte Gott, mit Dir zu tanzen!“

 

Noch bevor ich mich an Gott wenden konnte, lag ich auch schon

in seinen Armen, und Er tanzte mit mir den Tanz meines Lebens,

Seinen göttlichen Tanz.

So sehr ich dabei durch die Luft gewirbelt wurde, 

war mitten in mir doch ein Ort, der regungslos blieb und still.

In meinem Innersten schaute Gott von allem unberührt

mit einem seligen Lächeln dem Treiben zu.

 

Erfüllt von meinem Erleben sah ich nach dem alten Weber und bemerkte,

dass er mit dem gleichen seligen Lächeln vor mir saß, das ich

auch auf dem göttlichen Antlitz wahrgenommen hatte.

 

Verwundert fragte ich ihn:

„Wer bist Du und wie heißt Du?“

 

Der Weber antwortete:

 

„Ich bin ICH und heiße Kabir!“