Das Bekenntnis

 

 

 

An einem sonnigen Sommermorgen ging ich früh aus dem Haus,

um die Morgenstimmung mit ihrer milden Luft

und dem sanften Licht zu genießen.

Ich spazierte zu einem nahegelegenen See,

lauschte den Vogelstimmen

und nahm die feinen Gerüche in mich auf,

die eine leichte Brise

über das Wasser zu mir herüber wehte.

Ich war es gewohnt,

zu dieser morgendlichen Zeit hier allein zu sein.

Deshalb war ich überrascht,

als ich am Ufer des Sees eine Gestalt entdeckte.

In eine Decke gehüllt saß dort ein Mann regungslos in meditativer Haltung.

Ich hielt auf meinem Weg inne und spürte die friedliche Stille,

die der Mann ausstrahlte.

Da ich ihn in seiner Versenkung nicht stören wollte,

ging ich leise an ihm vorüber

und setzte mich in gebührender Entfernung

ebenfalls an das Ufer des Sees.

 

Ich schloss meine Augen,

richtete meine Aufmerksamkeit nach innen

und lauschte in die Tiefe, die sich in mir auftat.

Mitten aus der Stille stieg in mir die Frage auf:

Wer bin Ich?

Wer bin ich, befreit von allen Illusionen?

Wer bin ich in Wahrheit?

Ich wusste auf diese Frage keine Antwort,

die mich wirklich befriedigt hätte.

Ob der Mann in meiner Nähe

wohl herausgefunden hatte, wer er ist?

 

Ich war überrascht, als ich plötzlich eine Stimme vernahm.

Sie kam nicht von außen und war auch nicht wirklich zu hören.

Und doch verstand ich klar und deutlich,

was sie zu mir sprach:

 

 

„ICH bin das ICH der Transzendenz.

Als das ICH der Transzendenz bezeuge ICH die namenlose,

nicht erkennbare und nicht erfahrbare Transzendenz.

ICH bezeuge Mich Selbst.“

 

 

Dies erschien mir die Vision einer fernen Zukunft zu sein,

oder die Erinnerung an eine weit zurückliegende Vergangenheit.

Doch ehe ich meine Gedanken zu Ende denken konnte,

fuhr die Stimme fort:

 

 

„ICH bin das ICH der Transzendenz genau jetzt, in diesem Augenblick.

Genau jetzt bin ICH präsent.

Mein Bezeugen der Transzendenz kennt weder Anfang noch Ende.

Permanent bezeuge ICH die Transzendenz.

Meine Aufgabe besteht ausschließlich darin,

die Transzendenz zu bezeugen.

Jetzt!

ICH bezeuge:

ICH bin ICH.

Jetzt, permanent und ausschließlich.“

 

 

Ach könnte ich doch in das Jetzt eintauchen,

sagte ich zu mir selbst.

Doch wie leicht schweife ich in meinen Gedanken ab,

und wie leicht verliere ich mein Bewusstsein an irgendwelche Erscheinungen,

die mir in den Sinn kommen oder meine Sinne reizen!

 

 

„Mein Bewusstsein ist klar.

Mein Bewusstsein ist das Tor zu reiner Erkenntnis.

ICH erkenne Mich Selbst und bin Mir Meiner Selbst stets bewusst.

Niemals vergesse ICH Mich Selbst.

Nichts als ICH Selbst füllt Mein Bewusstsein.

ICH bezeuge: ICH bin Mir Meiner Selbst bewusst.

Jetzt, permanent und ausschließlich.“ 

 

 

Könnte auch ich jemals mich selbst in aller Klarheit erkennen?

So fragte ich mich.

Von welcher Warte aus könnte ich mich denn erkennen?

Ich bin doch kein Objekt, das ich beschreiben könnte.

Müsste ich mich zeigen?

Müsste ich mich zeigen, so wie ich bin?

Doch wer erkennt dann, wie ich mich zeige?

Ich nahm mir vor, diese Frage weiter zu untersuchen,

wenn sich mir die  Gelegenheit dazu bieten würde.

 

 

„ICH offenbare Mich genau jetzt, zu keinem anderen Zeitpunkt.

Es gibt keinen anderen Zeitpunkt als jetzt.

Was tritt genau jetzt in Erscheinung?

Genau so zeige ICH Mich jetzt.

ICH mache aus Mir kein Geheimnis.

ICH zeige Mich offen und aufrichtig, genau so.

ICH zeige Mich unmittelbar.

Eine Distanz zu Mir ist nicht möglich.

ICH bezeuge: ICH bin offenbar.

Jetzt, permanent und ausschließlich.“

 

 

Gerate ich nicht in Konflikt mit Anderen, sobald ich mich zeige?,

überlegte ich.

Oder könnte ich mich gar lächerlich machen?

Bräuchte ich also einen geschützten Raum mit mir vertrauten Menschen,

um mich zeigen zu können?

 

 

„Mein Herz gewährt den Raum für alles, was sich zeigt.

Es gibt keinen Raum außerhalb Meines Herzens.

Mein Herz ist weit und unbegrenzt.

Was auch geschieht, geschieht in Meinem Herzen.

Mein Bewusstsein durchdringt alles.

Mein Herz umfasst alles.

ICH bin die Liebe,

die bedingungslos und grenzenlos alles umfasst

und in sich vereint.

ICH bezeuge: ICH bin die Liebe.

Mein Herz steht immer allem offen. 

Jetzt, permanent und ausschließlich.“

 

 

Wie lange hatte ich es für Unsinn gehalten,

wenn von einem Herzen die Rede war

und nicht das Herz aus Fleisch und Blut gemeint war!

Jetzt aber spürte ich mitten in meiner Brust einen inneren Raum.

Ich spürte in mir das Herz,

das bereit war zuzulassen, was geschah,

das bereit war, alles anzunehmen

und Aufmerksamkeit und Zuwendung zu schenken.

Doch ließ ich mich denn selbst zu?

Gewährte ich mir selbst den Raum,

den ich brauchte?

Wagte ich es, mich selbst zu bekennen?

 

 

„ICH bekenne Mich zu Mir in allem, was ICH von Mir zeige.

ICH bekenne Mich auch in der kleinsten Geste. 

ICH bekenne Mich als ICH, als das einzige ICH.

Es gibt kein anderes ICH als Mein ICH.

ICH bin das Licht, das alles erhellt,

was sich im Raum Meines Herzens zeigt.

ICH strahle aus Mir Selbst heraus.

ICH bezeuge: ICH BIN!

Jetzt, permanent und ausschließlich.“

 

 

Gab es nicht unendlich viele Ichs?

Doch wenn es nur Eines, nur ein Einziges gibt,

wer sollte sich dann als dieses Ich bekennen können,

wenn nicht dieses EINE?

Leuchtet dann nicht das EINE durch jedes Ich hindurch? 

Und wer könnte dann etwas wollen?

Wenn durch jedes Ich in Wahrheit das EINE sprach,

gab es dann auch nur einen Willen,

den Willen des Einen?

So rätselte ich.

 

 

Allein Mein Wille geschieht.

Es gibt keine Instanz neben Mir,

die einen eigenen Willen haben könnte.

So bin ICH in allem, was geschieht,

in Einklang mit Mir Selbst und in immerwährendem Frieden.

Nichts hat auf Mich einen Einfluss.

Stets bin ICH frei, ICH Selbst zu sein.

ICH bezeuge:

ICH bin mit Mir eins.

Jetzt, permanent und ausschließlich.“

 

 

Wie sehnte ich mich doch nach Frieden!

Hatte ich mich immer getäuscht,

wenn ich in einem Konflikt war?

War das Ich, das in Konflikt war, selbst die Täuschung?

War jeder Konflikt eine Folge meiner Abgrenzung als einzelnes Ich?

Wie aber konnte ich mich abgrenzen,

wo es doch nur ein Ich gab?

War die Abgrenzung eine Illusion, an der ich festhielt?

Wer also war ich in Wahrheit?

Fragen über Fragen stellten sich mir.

Konnte es auf alle Fragen eine Antwort

geben, die alle Rätsel löste?

 

 

„ICH manifestiere Mich.

Genau hier und genau jetzt.

ICH manifestiere Mich konkret.

Genau so.

Ohne jeden Zweifel.

ICH manifestiere Mich in Wahrheit,

denn ICH bin die Wahrheit.

So ist auch Mein Konkretsein wahr,

denn ICH bin Mir Selbst stets treu.

Neben Mir und außer Mir:

nichts als Illusionen. 

ICH bezeuge:

ICH allein bin wahr.

Jetzt, permanent und ausschließlich.“

 

 

Wer war ich?

Hatte ich die Wahrheit nur gehört,

oder sprach die Wahrheit aus mir selbst? 

Was ich vernommen hatte,

ließ ich tief in mich einsinken

und bewahrte es in mir.

 

Als ich nach einiger Zeit meine Augen wieder aufschlug,

schaute ich nach dem meditierenden Mann.

Doch ich stellte fest,

dass ich allein am Ufer saß.

Das Wasser des Sees glitzerte

und alles, was ich ansah,

erstrahlte im Licht der Sonne.

 

 

 

25.9.2011