Am tiefsten Punkt

 

 

 

Bis zum tiefsten Punkt wollte er vordringen.

 

Also begann der Höhlenforscher, in den Abgrund, der sich vor ihm auftat,

hinabzusteigen. Zunächst noch begleitete ihn das Tageslicht, und grüne Pflanzen

säumten seinen Weg.

Je weiter der Höhlenforscher aber hinabkletterte, um so dunkler wurde es.

Die Vegetation wurde zusehends spärlicher, und bald war er nur noch

von nacktem Gestein umgeben.

 

Hier in der Tiefe und Abgeschiedenheit dieser Höhle, so hoffte der Höhlenforscher,

würde er Klarheit finden. Er hoffte herauszufinden, wer er in Wahrheit ist. Er hoffte,

sich selbst zu finden!

 

Der Forscher kletterte so weit nach unten, bis er in pures Dunkel gehüllt war.

Er konnte nichts mehr sehen, auch nicht mehr die Hand vor seinen Augen.

Er lauschte in die Stille, doch es gab nichts mehr zu hören. Er war von

absoluter Finsternis und völliger Stille umhüllt.

 

Der Höhlenforscher ahnte, dass er nun unmittelbar vor dem tiefsten Punkt

des Abgrunds stand. Die letzte Stufe aber wollte er frei von jeglicher Ablenkung

hinuntersteigen. 

Lange Zeit verharrte er regungslos und ließ seine Sinne zur Ruhe kommen.

Er ließ von allem ab, womit sich sein Bewusstsein hätte beschäftigen können.

Er sammelte sein Bewusstsein in einem einzigen Punkt, und bald herrschte

auch in ihm unberührte, lautlose Stille.

 

Jetzt war der richtige Zeitpunkt gekommen, den letzten Schritt zu wagen,

und er setzte seinen Fuß aufmerksam und konzentriert unter die letzte Stufe. 

Sein Schritt aber ging ins Leere. Nichts war unter ihm. Nichts gab es hier

zu finden: keinen Grund, kein Ich, keine Identität, nur Leere ...

 

Doch der Höhlenforscher fiel nicht. Nichts mehr befand sich unter ihm,

kein Gestein, aber auch kein Abgrund mehr und keine Tiefe, in die er

hätte fallen können.

Er verspürte auch kein Körpergewicht mehr, das ihn hätte nach unten

ziehen können.

Die Wände der Höhle waren verschwunden, aber er nahm auch keinerlei

Raum mehr um sich herum wahr.

Er selbst war der Raum, und der Raum, der er war, schien grenzenlos zu sein.

Dieser unbegrenzte, weite Raum erwies sich als identisch mit seinem Bewusstsein.

 

Plötzlich war dem Höhlenforscher so, als würde er emporgehoben.

Und je weiter er nach oben schwebte, um so heller wurde es.

Doch das Licht fiel nicht von außen auf seine Augen, vielmehr hellte sich

sein Bewusstsein auf.

 

Um den Forscher herum befand sich nichts Anderes mehr.

Alles, was er wahrnahm, war er selbst. Er war dabei, sich zu erkennen.

Je mehr er aber von sich erkannte, um so weiter wurde er nach oben getragen,

und um so heller erstrahlte das Licht in seinem Bewusstsein.

 

Er war von seinem Bewusstsein nicht verschieden. 

Also war er auch nicht von dem Licht verschieden, 

das in ihm erstrahlte und weiter an Leuchtkraft zunahm.

Das Licht war nichts Anderes als der Forscher selbst. 

Er war nichts Anderes als Licht!

 

Er ließ alles los, was das Licht hätte verdunkeln können. 

Er verzichtete auf jedes Bestreben, sich abzugrenzen, 

und auf jeden Wunsch, anders sein zu wollen als Anderes.

 

Augenblicklich ging dem Höhlenforscher jegliche Orientierung verloren.

Es gab kein Oben und kein Unten mehr und nichts mehr neben ihm.

Weder schwebte er, noch stand oder saß er. Er war hier.

Doch „hier“ war kein Ort. Er selbst war das Hiersein!

Weder konnte er in eine mögliche Zukunft schauen noch auf

Vergangenes zurückblicken. Die vergängliche Zeit war ausgelöscht.

Er war jetzt gegenwärtig. Doch „jetzt“ war kein Augenblick im Verlauf

vergehender Zeit.

Er selbst war das Jetzt!

 

Nichts war geblieben außer dem Hier, dem Jetzt und dem Licht.

Und das Hier und das Jetzt und das Licht waren reines Bewusstsein.

 

Er selbst war das Hier, das Jetzt, und das Licht. 

Er selbst war das reine Bewusstsein.

Und nichts war von ihm verschieden.

Alle Zweifel waren verfolgen, 

und er wusste mit Gewissheit:

 

 

ICH BIN ICH SELBST!

 

 

 

26.10.14