Das Theater

 


Heute Nacht hatte ich einen Traum, der so lebensecht war, dass er sich tief

in meine Erinnerung einprägte.

 

Der Traum begann damit, dass ich vor einem Theater stand, einem mächtigen,

quaderförmigen Bauwerk aus dunklem Stein. Mit einer unwiderstehlichen

Gewissheit wusste ich, dass ich im Innern des Theaters das finden würde,

wonach ich schon immer suchte.

Ich wandte mich der aus massivem Holz bestehenden Eingangstür zu.

Zu meinem Erstaunen war sie nicht abgeschlossen. Also betrat ich das Theater.

Nichts rührte sich, und niemand war zu sehen. Offenbar war ich allein.

Licht brannte nicht, und es ließ sich auch nicht einschalten. Nur ein fahler Schein

drang durch die wenigen Außenfenster in das Innere des Theaters.

Durch eine Flügeltür gelangte ich in den Theatersaal. Ich tastete mich

durch die Stuhlreihen, bis ich in der Mitte des Saals angelangt war.

Hier blieb ich wie angewurzelt stehen, denn ich spürte, dass dies der Ort war,

den ich gesucht hatte.

 

Was aber gab es hier in diesem menschenleeren Theater zu finden? 

Ratlos stand ich eine zeitlang auf meinem Platz und lauschte in die Stille.

Plötzlich vernahm ich eine Stimme, ohne dass für mich auszumachen war,

woher sie kam. Die Stimme rief mir zu:

„Hier bin ich! Ziehe den Vorhang beiseite, dann findest Du mich!“

 

Eilends suchte ich mir einen Weg nach vorn, hastete eine kleine Seitentreppe

zur Bühne empor und zog an dem schweren, dichtgewebten Vorhangstoff.

Der Vorhang öffnete sich tatsächlich einen Spalt weit, und ich starrte auf

die Bühne dahinter. Ich fand: nichts. Die Bühne war leer.

Ich war enttäuscht. Ich war mir doch so sicher gewesen, hier endlich zu finden,

was ich immer schon gesucht hatte!

Ich hatte mich auf meine innere Stimme verlassen und ihr, ohne einen Zweifel

zu hegen, vertraut. Hatte ich mich so sehr getäuscht?

 

Doch leise und kaum vernehmbar  sprach die Stimme wieder zu mir:

„Gehe wieder zur Mitte zurück. Du findest mich nicht auf der Bühne der Welt.

Du findest mich nur in Deiner Mitte! Ziehe dort den Vorhang zurück. Ich

spreche nicht von dem Vorhang aus Stoff, den Du noch in Händen hältst. 

Ich meine den Vorhang, der uns trennt. Ich meine den Vorhang,

mit dem Du Dich von Mir trennst!“

 

„Was trennt mich denn von Dir?“ fragte ich die Stimme.

„Alles, von dem Du glaubst, dass Du es bist, trennt Dich von mir!“

sprach die Stimme zu mir.

„Untersuche zunächst das, was Du für Deinen Körper hältst.

Bist Du tatsächlich diese äußere Form?

Und bist Du tatsächlich identisch mit den Bedürfnissen, die dieser Körper hat? 

Ziehe diesen Vorhang zurück!

 

Untersuche das, was Du für Deine Gedanken hältst.

Bist Du tatsächlich diese gedanklichen Kommentare,

die Dir unablässig durch den Kopf gehen?

Bist Du tatsächlich dieses Denken, das alles, was Dir widerfährt,

objektiviert und Dich dadurch von ihm trennt? 

Ziehe diesen Vorhang zurück!

 

Untersuche alles, was Dir wichtig ist, alles, was für Dich von Bedeutung ist.

Bist Du mit Deinen Ansichten tatsächlich ein gültiger Maßstab für das,

was Du in der Welt als gut oder schlecht, als richtig oder falsch beurteilst?

Ziehe diesen Vorhang zurück!

 

Untersuche das, was Du für Deine Gefühle hältst.

Bist Du tatsächlich das, was in Deiner Seele braust und brodelt,

weil die Welt einen anderen Verlauf nimmt, als von Dir erwartet?

Ziehe diesen Vorhang zurück!

 

Untersuche das, woran Du Dich gebunden siehst, und das, was Du zurückweist. 

Bist Du tatsächlich das Objekt einer Bindung? 

Bist Du tatsächlich die Schranke, die Dein Herz begrenzt?

Ziehe diesen Vorhang zurück!

 

Untersuche, wie und wozu Du Dich bekennst.

Bist Du eine Quelle des Lichts, oder hast Du tatsächlich Schatten zu verbergen,

die niemand sehen sollte, Schatten, die nicht einmal Du Dir anschauen willst?

Ziehe diesen Vorhang zurück!

 

Untersuche das, was geschieht.

Bist Du tatsächlich Täter oder Opfer eines Kampfes um die Macht?

Ziehe diesen Vorhang zurück!

 

Untersuche, ob Du tatsächlich das objektive Ich bist, das meint,

anders und besonderer zu sein als alles Andere und getrennt von ihm.

Ziehe auch diesen Vorhang zurück!“

 

Ich nahm mir den Rat der Stimme zu Herzen und unterzog mich

einer eingehenden und aufrichtigen Überprüfung.

Alles, wovon die Stimme gesprochen hatte, konnte ich untersuchen.

Doch nichts, was ich untersuchen konnte, war wirklich ich selbst!

Wer aber war dann ich?

Ich konnte mich, das, was ich wahrhaftig bin, nicht selbst untersuchen.

Ich war mir selbst kein Objekt!

 

Wie durch Zauberhand öffnete sich plötzlich der Bühnenvorhang

und gab den Blick auf die Bühne frei. Und augenblicklich erstrahlte sie in hellem Licht.

Vor mir tanzte eine bunte Schar illustrer Gestalten, und wie mir schien,

tanzten sie wild durcheinander. Doch je länger ich dem Treiben zuschaute,

um so bekannter kam mir vor, was ich sah: es war mein eigenes Leben.

War es tatsächlich mein Leben?

Es war das, was ich bisher für mein Leben gehalten hatte!

 

Was ich jetzt wahrnahm, waren dicht ineinander verflochtene Bewegungsabläufe

und Handlungsstränge. Alle waren wohl füreinander wichtig, doch keiner war

wichtiger als andere. Alle Akteure spielten ihre Rolle, wie vom Drehbuch vorgesehen,

doch keiner spielte aus freien Stücken. Alle Figuren spielten das Stück,

das „Mein Leben“ hieß. Doch keine der Figuren besaß ein eigenes Wesen.

Ich, der ich das Spiel betrachtete, war die Seele des Stücks!

Und doch war ich davon nicht wirklich betroffen. Meine Seele war nur der Spiegel,

der den Ablauf des Geschehens spiegelte. Der Spiegel aber blieb unberührt!

 

Im selben Augenblick, in dem ich mich als der Spiegel erkannte,

hatte der Spuk auf der Bühne ein Ende.

Ich war nicht dieser Spuk! Die Bühne war wie leergefegt.

Ich war nicht das, was ich für „mein Leben“ gehalten hatte!

Ich war hier, nur hier! Genau jetzt war ich hier. Ich war nichts Vergangenes.

Ich war auch keine Träumerei, die in die Zukunft reichte.

Ich war jetzt und genau hier der reine Spiegel, der alles spiegelte!

 

Ich bemerkte, dass der Theatersaal jetzt hell erleuchtet war.

Doch ich stand nicht mehr in seiner Mitte. Ich spiegelte auch den Saal,

und nicht nur den Saal, sondern das ganze Theater.

Ich nahm keinen Platz ein, der vom Theater aus bestimmbar gewesen wäre.

Ich war da, wie ich mit Gewissheit wusste, nicht jedoch das Theater.

Das Theater besaß keine eigene Existenz neben mir.

Es war nur ein Bild in mir, dem Spiegel!

 

Ich war wach geworden. Ich erinnerte mich an das Theater.

Das Theater aber und alles, was ich in ihm erlebt hatte, war nur ein Traum gewesen.

Ich hatte diesen Traum geträumt. Ich hatte mein Leben geträumt. 

Doch jetzt war ich wach! 

 

 

 

 

26.10.13