Auf Abwegen

 

 

 

 

Plötzlich war alles dunkel.

Was war geschehen?

Ich vermisste das Licht.

Ich war verwirrt, 

denn ich kannte keine Dunkelheit.

Immer war ich im Licht gewesen.

 

„Nein“ hatte ich gesagt.

Ich wollte anders sein, 

mich unterscheiden.

Ich wollte zeigen,

dass ich besser war

und bewundert werden.

Alles andere aber

wollte ich für mich behalten

und verbergen.

Ich hatte nach einem Ort gesucht,

an dem ich verstecken konnte,

was niemand sehen sollte.

Ich hatte ihn gefunden.

Doch im selben Moment war ich gestürzt

in einen tiefen, lichtlosen Abgrund.

Nun saß ich hier

in diesem finsteren Loch.

 

Ich war allein.

Wieso allein?

Ich war ein Ganzes gewesen, ungeteilt,

in dem nichts fehlte.

Jetzt aber war ich ein kleines Teilstück

unter unzählig vielen Teilen.

Ein jedes war getrennt von allen anderen

und allein.

Da jedes Teil darauf beharrte,

einzeln und besonders zu sein,

schien ein Wiederzusammenfügen unmöglich zu sein.

Auch ich war nicht dazu bereit,

mich ein- oder gar unterzuordnen.

Ich hätte mich verleugnen müssen.

So war ich 

und blieb ich allein.

Warum aber war das Licht

etwas Vergangenes für mich?

Wie konnte das eine Ganze vergangen sein?

Ich kannte keine Zeit!

Was war, war immer präsent gewesen,

jenseits von gestern oder morgen.

Vorher und nachher

gab es für mich nicht.

Jetzt aber erinnerte ich mich nur

an diesen Zustand der Präsenz.

Er war vergangen und vorbei.

Ich befand mich mitten im Verlauf der Zeit.

Die Erfüllung meiner Wünsche lag in der Zukunft,

doch alles Künftige war jetzt noch unerreichbar.

Und kaum hatte ich etwas gedacht oder getan,

war es auch schon vergangen.

Es wieder zurückzuholen, war nicht möglich.

Ich war ein Gefangener der Zeit.

Sie lief, ohne auch nur einmal anzuhalten.

Ich fühlte mich zum Handeln gedrängt.

Hatte ich schon etwas versäumt?

Galt es nicht, jede Chance zu nutzen,

um in der Zukunft vielleicht

einen Ausweg aus diesem Zustand zu finden?

Wenn aber alles der Zeit unterworfen

und vergänglich war,

galt das dann auch für mich?

Mir wurde klar,

dass auch ich vergänglich war,

dass ich dazu verurteilt war,

zu sterben.

Eines Tages würde mich der Tod ereilen,

ohne dass ich wissen konnte, wann.

Ich war doch unsterblich gewesen!

Anfangslos und ohne Ende war ich,

ewig in der kontinuierlichen Gegenwart

des unvergänglichen Jetzt.

Doch nun war ich dem Tod geweiht!

 

Ich bekam Angst,

Angst um mein Leben.

Wie sollte ich es denn bewältigen können,

da doch alles unwägbar war,

da doch auf nichts Verlass war?

Ich spürte die Angst,

sie machte mich klein,

sie nahm mir den Mut

und ließ mich zittern.

Ich hatte keine Angst gekannt!

Ich wusste immer,

dass alles gut war,

so wie es war.

In dem einen, umfassenden Ganzen

hatte alles seinen Platz gehabt.

Und alles war immer genau so geschehen,

wie ich es wollte.

Es hatte nur einen Willen gegeben,

den Willen des Einen,

und dieser Wille des Einen

war identisch mit meinem Willen gewesen.

Nichts hatte je in Frage gestanden.

so hatte es auch keinerlei Anlass gegeben,

Angst vor etwas zu haben.

Doch nun war dieses Etwas übermächtig,

ein Etwas, das es nie gegeben hatte.

Ein mir unbekanntes Etwas

bedrohte mich jetzt!

 

Ich sehnte mich nach Sicherheit,

nach einer Sicherheit,

die mir in meiner Verletzlichkeit

Schutz geben sollte.

War ich nicht immer sicher gewesen?

Ich hatte doch in mir selbst geruht,

in meiner Mitte.

Ich selbst war die Mitte gewesen.

Nichts hatte es gegeben,

das meine Ruhe hätte stören können!

Unantastbar war ich gewesen

und nicht beeinflussbar,

da es neben mir nichts gab,

das mich hätte beeinflussen können.

Unverletzlich war ich gewesen

und frei von Schmerz und Leid.

Nichts an mir war veränderlich gewesen.

Doch nun war alles anders.

Ich konnte keinen Halt mehr finden.

Von Augenblick zu Augenblick

zeigte sich alles in neuer Gestalt.

Was wahr zu sein versprach,

erwies sich als trügerisch.

Was eben noch schön war

zeigt sich im nächsten Moment 

als hässliche Fratze.

Und versuchte ich das, 

was sich mir zeigte, zu greifen, 

so griff ich ins Leere.

Jede Orientierung kam mir abhanden.

Ziellos irrte ich durchs Ungewisse.

 

Ich war mir doch meiner selbst

gewiss gewesen!  

Nichts hatte  mich beirren können,

denn etwas anderes als mich

hatte es nie gegeben.

Jetzt aber plagten mich Zweifel,

und ich wusste weder ein noch aus.

Auf keinen Standpunkt war Verlass,

immer gab es alternative Sichtweisen

und andere Perspektiven.

Jede Behauptung, Recht zu haben,

erwies sich als Einengung

auf nur einen Blickwinkel unter vielen möglichen.

Alles, was mir wichtig war,

hatte diese Bedeutung letztlich nur für mich.

War es denn sinnvoll,

auf Werten zu beharren,

die für andere bedeutungslos waren?

Ich konnte aus diesem Dilemma

keinen Ausweg finden.

Sobald ich mich für etwas entschied,

entschied ich mich damit gegen etwas anderes.

In einem Zwiespalt zu stecken,

war mir völlig fremd.

Einzig und allein die Wahrheit

hatte für mich gegolten.

Und es hatte nur eine Wahrheit gegeben.

Diese eine Wahrheit

war unantastbar

und uneingeschränkt gültig gewesen.

Die Wahrheit war kein Objekt gewesen,

über das hätte gestritten werden können.

Die Wahrheit war nicht außerhalb von mir gewesen.

Und es war nicht möglich gewesen,

für oder gegen die Wahrheit zu sein.

Ich erinnerte mich,

dass ich selbst die Wahrheit war,

und dass nichts von ihr abwich,

also auch nicht von mir!

 

Wem aber konnte ich jetzt noch Glauben schenken,

und was war mehr als bloßer Schein?

Bei näherem Hinsehen

entpuppte sich alles als Illusion.

Was immer meine Sinne

um mich her wahrnahmen,

war vergänglich.

Mein Körper alterte.

Auch was in meinem Innern vor sich ging,

war ohne Bestand.

Gedanken kamen und gingen,

Gefühle überschwemmtem mich

und lösten sich wieder auf.

Was mir unverzichtbar schien,

verlor doch wieder seinen Wert für mich.

Verschiedene Zustände lösten einander ab.

Und ich?

Ich wusste nicht mehr,

wer ich war,

denn auch mein Selbstbild

änderte sich ständig.

Es gab nichts mehr,

worauf ich mich verlassen konnte.

So war die Wahrheit

für mich verloren.

Was blieb, war Lug und Trug.

Irrlichter umschwirrten mich mit hämischem Grinsen

und spielten Schabernack mit mir.

Sollten Illusionen das Einzige sein,

das Bestand hatte?

War aber nicht ausschließlich

die Wahrheit von Bestand?

Wo war sie jetzt?

Sie musste doch hier sein,

als Einziges!

 

Wer war Licht gewesen

und ins Dunkle gestürzt?

Ich.

Wer war ein Ganzes gewesen

und hatte sich im Getrenntsein verirrt?

Ich.

Wer war im Jetzt präsent gewesen

und hatte sich in der Zeit verfangen?

Ich.

Wer war unantastbar gewesen

und hatte jeden Halt verloren?

Ich.

Wer war sich seiner selbst gewiss gewesen

und wurde nun von Zweifeln zerrissen?

Ich.

Wer war wahr gewesen

und hatte sich von Illusionen täuschen lassen?

Ich.

Was also hatte Bestand?

Ich.

Was konnte allein Bestand haben?

Die Wahrheit.

War also ich die Wahrheit?

 

Trennte ich mich von der Wahrheit,

indem ich an Illusionen festhielt,

war das Bild, das ich von mir hatte,

selbst eine Illusion.

War ich mir aber der Wahrheit bewusst,

konnte mich nichts mehr

von der Wahrheit trennen.

Ich war das Bewusstsein,

das die Illusion erkannte und bezeugte.

In meinem Zeugesein aber 

lösten sich alle Illusionen auf,

als wären sie nie gewesen.

Ich erkannte,

dass keine Illusion jemals wirklich war.

 

Von allen Illusionen befreit

blieb allein das reine Sein, reine Offenbarung.

Ich war diese Offenbarung,

ich war das Sein.

Anderes gab es nicht.

Ich umfasste alles Sein.

Was sich auch zeigte und bewegte,

erschien als Ich.

So war ich beides:

Bewusstsein und Sein.

Untrennbar verband ich

das Bewusstsein und das Sein miteinander.

 

Ich ließ mich ganz

auf das Einssein ein.

Mein Empfinden des Einsseins

tauchte mich in eine Seligkeit,

in der alles erstrahlte.

Ich selbst erstrahlte,

denn ich war diese Seligkeit. 

 

So war ich alle drei:

Bewusstsein, Sein und Seligkeit.

 

ICH war wieder ICH!

ICH, nur ICH!

 

Nicht als Vergangenes.

Jetzt!

 

Wer sagt jetzt:

„ICH“?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

27.10.13